Entwickle vernetzte Systeme statt vernetzter Produkte

Entwickle vernetzte Systeme statt vernetzter Produkte

Lesezeit: 7 Min

Je mehr ein Produkt Teil eines vernetzten Systems werden soll, desto mehr muss der Systemgedanke die gesamte Konzeptionierung prägen. Vernetzte Produkte sollten dem Benutzer das Gefühl geben, mit einem ganzheitlichen System über Gerätegrenzen hinweg zu interagieren, nicht mit einem Haufen separater Geräte. Siehe hierzu auch Interoperabilität und Interusability als zwei der wichtigsten Herausforderungen bei der Entwicklung vernetzter HVAC-Produkte.

Produktentwickler müssen daher bereit sein, Kompromisse einzugehen und Designentscheidungen für Produkt A zugunsten des Zusammenspiels mit den Produkten B oder C unterzuordnen. Nur so wird das Ganze größer als die Summe seiner Teile.

Von Produktsystemen sprechen wir beispielsweise, wenn ein Heizungsprodukt als Teil eines Smart Home-Systems positioniert werden soll, die Einbindung in die Gebäudeleittechnik eine wichtige Rolle spielt, oder um als Hersteller ein modulares, aufeinander abgestimmtes Produktportfolio anzubieten. Während erstere Fälle dem Hersteller viele Designentscheidungen vorschreiben, um den bestehenden Standard zu erfüllen, hat er innerhalb seines eigenen Portfolios freie Hand.

In jedem Fall sollten bei der Entwicklung vernetzbarer Produkte drei wichtige Aspekte beachtet werden, damit diese zu einem durchdachten System beitragen: Die Komposition, die Konsistenz und die Kontinuität [1].

Die Komposition vernetzter Systeme: Welches Gerät bietet welche Funktionalität?

In einem vernetzten System muss sorgfältig geplant werden, welches Gerät welche Funktionalitäten beinhalten soll und wie diese miteinander interagieren sollen. Beispiele:

  • Welche Rechenoperationen werden auf einem Raumthermostat oder dem dazugehörigen Heizungsregler ausgeführt?
  • Welche Daten sollen direkt im elektronischen Speicher einer Kesselsteuerung, einer SD-Karte, oder auf einem Cloud-Server gespeichert werden?
  • Welchen Übertragungsweg die Daten durch das System nehmen, beispielsweise von Gerät A über Gerät B zu Gerät C, oder direkt von A zu C?
  • Welche Geräte sollen eine eigene Benutzerschnittstelle erhalten, und worüber werden diejenigen ohne eigene Benutzerschnittstelle bedient? (siehe auch Smartphones als Bediengerät für Heizsysteme)

 

Neben den technischen Auswirkungen ist die Komposition auch für die Wahrnehmung der Benutzerfreundlichkeit entscheidend. Eine wichtige Determinante von Usability ist nämlich die Übereinstimmung zwischen der Komposition mit dem mentalen Modell des Benutzers – also dem Verständnis davon, in welchem Gerät er eine bestimmte Funktionalität erwartet, und wie sie mit den anderen Geräten zusammenhängt.

Je besser das Systemverhalten dem mentalen Modell des Benutzers entspricht, desto höher die Usability. Je stärker der Benutzer hingegen sein mentales Modell aufgrund eines abweichenden Systemverhaltens umlernen muss, desto mehr Lehrgeld zahlt er.

Konsistenz: der rote Faden durch multiple Benutzeroberflächen

Vernetzte Systeme enthalten oft mehrere Geräte mit eigenem User Interface. Wenn diese herstellerübergreifend zusammenarbeiten sollen, wie beispielsweise in Smart Home-Systemen oder dem Flickenteppich eines schrittweise nachgerüsteten Heizungskellers, resultiert das meist in völlig unterschiedlichen Benutzeroberflächen. Da jeder Komponentenhersteller seine eigene Philosophie verfolgt, ist dies nur schwer aufzulösen.

Innerhalb eines komplementär zueinander entwickelten Produktprogramms desselben Herstellers (oder eines beherrschbaren Kooperationsnetzwerkes) sind die Voraussetzungen für ein durchgängiges Bedienkonzept viel besser, werden allerdings auch umso mehr vom Benutzer erwartet.

 

Der Aspekt der Konsistenz bezieht sich auf einheitliche Terminologie, Symbolik und Interaktionsarchitektur über mehrere Geräte hinweg. Dem Benutzer sollte intuitiv klar sein, wie sich unterschiedliche Wörter, Situationen oder Aktionen zueinander verhalten. Was im Heizungsregler „Automatik“ heißt, am Raumthermostat mit einem A-Symbol abgekürzt wird und in einer App „On“ heißt, meint vielleicht technisch die gleiche Funktion, verlangt dem Benutzer aber ein tieferes Verständnis der Funktionsweise jedes Systemteils ab, um es sich mit Gewissheit selbst herzuleiten.

 

In der Praxis entstehen oft Konflikte zwischen verschiedenen Formen der Konsistenz. Beim Design einer App bietet es sich beispielsweise an, die Konventionen des Betriebssystems für die Gestaltung von Schaltflächen und Eingabefeldern zu übernehmen.

Einen analogen Schalter auf dem Smartphone abzubilden würde beispielsweise äußerst klobig wirken. Ihn durch einen Android- oder iOS-typischen Button zu ersetzen, fiele jedoch die Konsistenz zwischen Gerät und dazugehöriger App, also innerhalb des Portfolios unseres Beispielherstellers, zum Opfer.

Ein guter Kompromiss könnte es sein, die Plattformkonventionen von iOS oder Android zu berücksichtigen, jedoch charakteristische Kernelemente wie etwa eine bestimmte Farbgebung oder die Kreisform eines analogen Drehrades widerzuspiegeln.

Kontinuität für reibungslose Übergaben von einem Gerät zum nächsten

Beim Datenaustausch kommt es immer zu Latenzzeiten, gelegentlichen Verlusten von Datenpaketen oder temporärer Nicht-Erreichbarkeit einzelner Komponenten (siehe auch Die 8 Herausforderungen vernetzter Heiztechnik). Wann immer es hierdurch zu kurzen Aussetzern kommt, liegt ein Kontinuitätsproblem vor.

Während die Kontinuität in weiten Teilen des Internet of Things eine der größten Herausforderungen darstellt, sind die meisten Anwendungsfälle der Heiztechnik hierbei zum Glück recht tolerant.

Dies liegt zum einen daran, dass die Funktionalität des Systems durch kurze Aussetzer im Sekunden- oder sogar Minutenbereich in der Regel keine wesentliche Beeinträchtigung erfährt. Zum anderen, weil der Umfang menschlicher Interaktionen mit einem Heizsystem eher punktueller Natur ist. Im Vergleich dazu können hingegen bei vielen Connected Consumer Electronics wie beispielsweise dem Musikhören über Bluetooth oder dem Netflix-Streaming per Smart TV schon kürzeste Systemaussetzer das Nutzererlebnis massiv stören.

Es ist wegen des hohen technischen Aufwandes, höheren Stückkosten und Wechselwirkungen mit anderen Produkteigenschaften weder möglich noch erstrebenswert, sämtliche Störfälle auszuschließen. Diese gehören zu einem vernetzten System dazu.

Dennoch ist es Aufgabe der Produktentwicklung, in erster Instanz Störungen bestmöglich vorzubeugen und in zweiter Instanz die Benutzererfahrung bei den restlichen Kontinuitätsproblemen intelligent zu gestalten. Im Detail:

Prävention

Produktentwickler müssen ihre Systeme und deren Bestandteile in dem Maße ausreichend robust machen, dass die Betriebssicherheit und die wesentliche Funktionalität des Systems stets gewährleistet ist. Aus unzähligen Designentscheidungen, die hierauf Einfluss haben, hier ein Ausschnitt möglicher Stellhebel:

  1. Retrys einbauen, um verlorene Verbindungen automatisch wiederherzustellen
  2. Detektieren verlorener Datenpakete, automatischer Resends und/oder redundanter Datenversand, um einzelne Paketverluste kompensieren zu können.
  3. In Anwendungsfällen mit eher geringer Toleranz für Latenzzeiten, kann die Systemkomposition zugunsten kurzer Übertragungswege beeinflusst werden. Faustregel: je lokaler die Funktionalität verfügbar ist, desto kürzer die Latenzzeit. Am kürzesten ist sie demnach, wenn die abzurufende Funktionalität lokal auf dem Gerät selbst liegt. Etwas länger, wenn sie innerhalb eines lokalen Netzwerks übertragen wird. Am längsten, wenn sie über externe Netzwerke wie die Cloud angefordert werden müssen. Produktentwickler sollten somit die maximal tolerierbaren Latenzzeiten definieren und diese ins Systemdesign einfließen lassen.
  4. Wahl der richtigen Kommunikationstechnologien. Da der LIN-Bus beispielsweise für kurze Übertragungswege und geringe Datenmengen optimiert ist, wären bei längeren Leitungen oder größeren Datenmengen CAN-Bus oder Modbus die bessere Wahl. Verkabelte Kommunikation weist generell eine höhere Übertragungssicherheit auf als drahtlose (siehe auch Verkabelt oder drathlos?), und so weiter. Da jede Kommunikationstechnologie ihre Vor- und Nachteile hat, muss diese vor allem zum Anwendungsfall passen, um die bestmögliche Betriebssicherheit zu bieten.
  5. Passende Wahl der Netzwerkstruktur.
    Stern-Topologien können den Ausfall einzelner Teilnehmer besser kompensieren als Ring- oder Baum-Topologien – sofern nicht der zentrale Knotenpunkt betroffen ist. Mesh-Netzwerke bieten hierzu die höchste Funktionssicherheit.
  6. Richtige Auswahl der Elektrobauteile. Speicherbausteine, deren Lese- und Schreibzyklen im Rahmen einer Anwendung schnell ausgereizt werden, können etwa durch eine stark verkürzte Lebensdauer zu frühzeitigen Ausfällen führen. Kondensatoren, die für den Industrie- statt den Consumerbereich ausgelegt sind, erfüllen höhere Temperaturklassen und bieten somit eine bessere Funktionssicherheit und Langlebigkeit. Und so weiter.
  7. Layout elektronischer Schaltungen, um Störeinstrahlungen und eigene Störaussendungen mindestens gemäß der europäischen EMV-Richtlinie zu dämpfen.
  8. Performante Software. Ein unzureichend programmiertes Multithreading, also das parallele Abarbeiten mehrerer Ausführungsstränge, erhöht zum Beispiel das Risiko, Prozessor oder Arbeitsspeicher zu überfordern und Datenpakete zu verlieren.
  9. Sichere Fallback-Szenarien vorsehen.
Nutzererlebnis gestalten

Wenn Kontinuitätsstörungen auftreten, sollte die Benutzer vor den Auswirkungen kurzer, unkritischer Aussetzer weitgehend abzuschirmen. Mögliche Stellhebel:

  1. Dem System längere Wartezeiten oder eine höhere Anzahl von Verbindungsversuchen ermöglichen, bevor diese dem Benutzer mit einer Fehlermeldung eine Störung suggerieren.
  2. Pragmatische Fallback-Szenarien vorsehen
  3. Abgestuftes Problemhandling je nach Reaktionszeit. Faustformel: Reaktionszeit von 0,1 Sekunden muss erreicht werden damit sie den Eindruck der unmittelbaren Wirkung bewahrt. Reaktionszeiten zwischen 0,1 und 1 Sekunde können schon hakelig wirken. Über 1 Sekunde sollte man über Zwischenfeedback nachdenken, an dem der Benutzer erkennt, dass seine Interaktion registriert wurde. Zum Beispiel in Form eines Ladebildschirms, oder durch visuelles Übernehmen seines Knopfdruckes, selbst wenn das System im Hintergrund noch mit dessen Ausführung beschäftigt ist.

Ein Produktsystem, das Komposition, Konsistenz und Kontinuität vereint, erfüllt einige wichtige Voraussetzungen für zufriedene Anwender.

Welche weiteren Kriterien zum positiven Nutzererlebnis eines HVAC-Systems beitragen, erläutert der Artikel zur User Experience vernetzter Heiz- und Kühlsysteme. Um welche Aspekte das User Interface vernetzter Produkte erweitert werden muss und wie es dennoch gelingen kann, es übersichtlich zu halten, wird im Kapitel zur Bedienbarkeit vernetzter Systeme gesondert thematisiert.

Warum der Zusammenschluss von Heiztechnik in vernetzte Systeme überhaupt so essenziell ist, lesen Sie unter Wie die Konnektivität die Heizungsindustrie von morgen prägt.

Jonas Bicher

Über den Autor

Jonas Bicher ist seit 2013 Geschäftsführer bei SOREL.
Er mag innovative Ideen, Usability Design und softwarebasierte Technologien

Related Posts